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Dienstag, 14. März 2017

Kreativität im Punktesystem


Früher wollte ich niemals Kinder haben. Der Grund: sie müssten dann ja irgendwann zur Schule gehen. Für dieses Statement wurde ich nicht nur einmal ausgelacht. Meine eigene Schulzeit fand größtenteils in einem Mädchengymnasium statt. Schwierig für jemanden, der in einem stark männer-geprägten Haushalt aufwächst, aber das konnten meine Eltern vorab nicht wissen. Obwohl… Vielleicht wollte meine Mutter mich auch nur auf den rechten, also den christlichen, noch lieber den religiösen und am allerliebsten den geweihten Weg bringen. Eine Ordensschwester als Tochter hätte ihr ausgesprochen gut gefallen.

Es kam anders. Auch das Lyzeum konnte den Kontakt zu anderen Männern außerhalb meiner Familie nicht dauerhaft unterbinden. Inzwischen habe ich drei Kinder (Söhne, natürlich) und sie müssen zur Schule. Zwei bisher, der dritte hat noch eine kleine Schonfrist.

Und – wieder einmal – bewahrheitet sich mein Unkenruf. Nicht die Kinder sind schlimm oder nervig oder belastend für mein Seelenheil. Nein, das deutsche Schulsystem ist quasi mein Sarg um die paar Nägel Berufskummer, Familienstreit und Gewichtsprobleme. Mein mittlerer Sohn ist ein Philosoph. Mit knapp drei Jahren wollte er wissen, was mit den Menschen passiert, wenn sie sterben. Er interessierte sich dafür, woher die Stimme kommt und findet, dass es sich anhört als ob Watte einen umnebelt, wenn jemand schreit. Er kam mit sechs Jahren in die wunderbare bayerische Grundschule. Wissbegierig, kreativ und voller Freude. Jetzt weiß ich, vier Jahre sind viel Zeit, um einem Kind alle seine Antennen für Neues und Interessantes gründlich und vollständig zu ruinieren. Die ersten beiden Schuljahre verbrachte er damit, auszumalen. Mandalas, Mathe-Übungen, Leseblätter – er brachte unzählige graue Kopierseiten mit schwarzen Umrissen nach Hause, die es mit Farbstiften großflächig auszufüllen galt. Malen statt Schreiben, Malen statt Rechnen. Malen zur Belohnung, Malen nach Zahlen. In der dritten Klasse, spezifisch im neu eingeführten Lehrplan PLUS, sollten die Kinder nun vor allem eines lernen: Kompetenzen. Klingt gut, ist es aber nicht. Denn für Kompetenzen braucht es Grundlagen. Das Alphabet muss sitzen, damit ich meine Gedanken in Worte fassen kann. Und auch die tollsten Knobelaufgaben lassen sich nicht lösen, wenn ich die Fragestellung nicht erfasse, weil mein Leseverhalten im Buchstabiermodus hängen geblieben ist. Problem erkannt, Problem gebannt: Auswendig gelernt werden muss, was das Zeug hält. Und es geht weiter. In der vierten Klasse sollen nun die Hefteinträge wortwörtlich auswendig sitzen, damit nicht die Fragestellungen allein in den Tests vier bedruckte Seiten einnehmen, um klar und eindeutig zu sein. Dass zu den Symbolen einer Flagge ganz automatisch auch die Farben gehören ist doch logisch, so war es im schließlich Heft aufgemalt. Die Verwaltung einer Stadt, ihre Aufgaben, ihre Einnahmequellen, das deutsche Wahlrecht, alles muss sitzen, bis ins Detail. Und darüber hinaus möchten wir jetzt doch gern gleichzeitig auch noch kleine Forscher haben. Ideen, Kreativität, über den Tellerrand blicken sind die Eigenschaften, die aus der Note 2 (der komplett in- und auswendig abrufbare Lernstoff) die Note 1 machen. Was vielen Kindern in den ersten drei Schuljahren mittels unzähliger stupider Wiederholungen abtrainiert wurde, soll jetzt, auf den Punkt und ohne Übergang einfach da sein. Aber Vorsicht, zu kreativ darf es dann auch nicht sein. Und vor allem nicht in jede Richtung. Und bitte immer streng mit Punkten zu bewerten. Kreativität ist wie ein Würfel: Die Idee, die am meisten in die Richtung des Lehrerhorizonts geht, ist perfekt, alle anderen sind mäßig bis wertlos.

Gedanklich gründe ich eine Widerstandsbewegung und setze Herrn Spänle zusammen mit der ganzen Führungsriege des Bayerischen Kultusministeriums zusammen mit ein paar hungrigen Eisbären auf einer Scholle im Polarkreis aus. Die Klassenlehrer der vierten Klassen schwimmen auf der Scholle daneben. Tatsächlich bin ich noch unentschlossen: Soll ich am nächsten Elternsprechtag der „Fledermaus“ (temporärer und leicht überforderter Klassenleiter meines Sohnes) links und rechts eine runterhauen oder ist ein Kinnhaken besser? Oder klassisch das Knie hoch? Verdient hätte er es.

Ganz ehrlich: Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich die nächsten Jahre überstehen soll. Was macht dieses kranke, überholte und überforderte Schulsystem aus meinen klugen, interessierten und lustigen Kindern? Bin ich kettenrauchende Alkoholikern, bis der Jüngste das Erwachsenenalter erreicht? Ich zeige jetzt ganz wörtlich allen heuchlerischen Schulamts- und Kultus-Verbrechern beide ausgestreckten Mittelfinger. Der einzige deutsche Philosoph, der von diesem Studium leben kann (also nicht ich), hat das Problem auch erkannt: „Anna, die Schule und der liebe Gott!“ Lieber Richard David Precht, ich bin weder reich noch berühmt, aber ich stehe voll und ganz hinter Ihnen! Und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr es mich freuen würde, wenn wenigstens Ihre Stimme der Vernunft mal an der richtigen Stelle gehört würde. Denn gute Ideen finden alle super, aber umsetzen will sie dann keiner. Komisch, oder? Soviel zur Kreativität unserer Kinder, die wir wollen, aber halt irgendwie auch nicht. Im tiefen Grunde ihres Herzens sehnen sich Lehrer und Chefs doch nach folgsamen, stumpfen, kleinen Soldaten, gestern, heute, morgen…

Epilog:

Fragestellung Klassenarbeit Heimat- und Sachunterricht Klasse 4 in München:

„Wenn ich von Russland nach Alaska reise, ist das nicht weit. Stimmt die Behauptung? Begründe!“

Antwort:

„Ja, das stimmt, weil die Erde rund ist.“ (2 Punkte)

(Alternativ wäre richtig gewesen: „Ja, das stimmt, ich kann die Karte umklappen.“)

Weiß Herr Putin eigentlich schon, dass Russlands aus Sibirien besteht und Petropawlowsk-Kamtschatka der Nabel der Welt ist? Vielleicht sollte er mal bei uns in die Grundschule gehen, das könnte sein Weltbild für immer verändern. Es ist ja nach überall hin nicht weit, wenn man’s genau nimmt. Die Erde ist rund...