Früher wollte ich niemals Kinder haben. Der Grund: sie
müssten dann ja irgendwann zur Schule gehen. Für dieses Statement wurde ich
nicht nur einmal ausgelacht. Meine eigene Schulzeit fand größtenteils in einem
Mädchengymnasium statt. Schwierig für jemanden, der in einem stark
männer-geprägten Haushalt aufwächst, aber das konnten meine Eltern vorab nicht
wissen. Obwohl… Vielleicht wollte meine Mutter mich auch nur auf den rechten,
also den christlichen, noch lieber den religiösen und am allerliebsten den
geweihten Weg bringen. Eine Ordensschwester als Tochter hätte ihr ausgesprochen
gut gefallen.
Es kam anders. Auch das Lyzeum konnte den Kontakt zu anderen
Männern außerhalb meiner Familie nicht dauerhaft unterbinden. Inzwischen habe ich
drei Kinder (Söhne, natürlich) und sie müssen zur Schule. Zwei bisher, der
dritte hat noch eine kleine Schonfrist.
Und – wieder einmal – bewahrheitet sich mein Unkenruf. Nicht
die Kinder sind schlimm oder nervig oder belastend für mein Seelenheil. Nein,
das deutsche Schulsystem ist quasi mein Sarg um die paar Nägel Berufskummer,
Familienstreit und Gewichtsprobleme. Mein mittlerer Sohn ist ein Philosoph. Mit
knapp drei Jahren wollte er wissen, was mit den Menschen passiert, wenn sie
sterben. Er interessierte sich dafür, woher die Stimme kommt und findet, dass
es sich anhört als ob Watte einen umnebelt, wenn jemand schreit. Er kam mit
sechs Jahren in die wunderbare bayerische Grundschule. Wissbegierig, kreativ
und voller Freude. Jetzt weiß ich, vier Jahre sind viel Zeit, um einem Kind
alle seine Antennen für Neues und Interessantes gründlich und vollständig zu
ruinieren. Die ersten beiden Schuljahre verbrachte er damit, auszumalen.
Mandalas, Mathe-Übungen, Leseblätter – er brachte unzählige graue Kopierseiten
mit schwarzen Umrissen nach Hause, die es mit Farbstiften großflächig
auszufüllen galt. Malen statt Schreiben, Malen statt Rechnen. Malen zur
Belohnung, Malen nach Zahlen. In der dritten Klasse, spezifisch im neu
eingeführten Lehrplan PLUS, sollten die Kinder nun vor allem eines lernen: Kompetenzen.
Klingt gut, ist es aber nicht. Denn für Kompetenzen braucht es Grundlagen. Das
Alphabet muss sitzen, damit ich meine Gedanken in Worte fassen kann. Und auch
die tollsten Knobelaufgaben lassen sich nicht lösen, wenn ich die Fragestellung
nicht erfasse, weil mein Leseverhalten im Buchstabiermodus hängen geblieben
ist. Problem erkannt, Problem gebannt: Auswendig gelernt werden muss, was das
Zeug hält. Und es geht weiter. In der vierten Klasse sollen nun die
Hefteinträge wortwörtlich auswendig sitzen, damit nicht die Fragestellungen allein
in den Tests vier bedruckte Seiten einnehmen, um klar und eindeutig zu sein. Dass
zu den Symbolen einer Flagge ganz automatisch auch die Farben gehören ist doch logisch,
so war es im schließlich Heft aufgemalt. Die Verwaltung einer Stadt, ihre
Aufgaben, ihre Einnahmequellen, das deutsche Wahlrecht, alles muss sitzen, bis
ins Detail. Und darüber hinaus möchten wir jetzt doch gern gleichzeitig auch
noch kleine Forscher haben. Ideen, Kreativität, über den Tellerrand blicken
sind die Eigenschaften, die aus der Note 2 (der komplett in- und auswendig abrufbare
Lernstoff) die Note 1 machen. Was vielen Kindern in den ersten drei Schuljahren
mittels unzähliger stupider Wiederholungen abtrainiert wurde, soll jetzt, auf
den Punkt und ohne Übergang einfach da sein. Aber Vorsicht, zu kreativ darf es
dann auch nicht sein. Und vor allem nicht in jede Richtung. Und bitte immer
streng mit Punkten zu bewerten. Kreativität ist wie ein Würfel: Die Idee, die
am meisten in die Richtung des Lehrerhorizonts geht, ist perfekt, alle anderen
sind mäßig bis wertlos.
Gedanklich gründe ich eine Widerstandsbewegung und setze
Herrn Spänle zusammen mit der ganzen Führungsriege des Bayerischen
Kultusministeriums zusammen mit ein paar hungrigen Eisbären auf einer Scholle
im Polarkreis aus. Die Klassenlehrer der vierten Klassen schwimmen auf der
Scholle daneben. Tatsächlich bin ich noch unentschlossen: Soll ich am nächsten
Elternsprechtag der „Fledermaus“ (temporärer und leicht überforderter Klassenleiter
meines Sohnes) links und rechts eine runterhauen oder ist ein Kinnhaken besser?
Oder klassisch das Knie hoch? Verdient hätte er es.
Ganz ehrlich: Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich
die nächsten Jahre überstehen soll. Was macht dieses kranke, überholte und
überforderte Schulsystem aus meinen klugen, interessierten und lustigen
Kindern? Bin ich kettenrauchende Alkoholikern, bis der Jüngste das Erwachsenenalter
erreicht? Ich zeige jetzt ganz wörtlich allen heuchlerischen Schulamts- und
Kultus-Verbrechern beide ausgestreckten Mittelfinger. Der einzige deutsche
Philosoph, der von diesem Studium leben kann (also nicht ich), hat das Problem auch
erkannt: „Anna, die Schule und der liebe Gott!“ Lieber Richard David Precht,
ich bin weder reich noch berühmt, aber ich stehe voll und ganz hinter Ihnen! Und
ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr es mich freuen würde, wenn wenigstens
Ihre Stimme der Vernunft mal an der richtigen Stelle gehört würde. Denn gute
Ideen finden alle super, aber umsetzen will sie dann keiner. Komisch, oder?
Soviel zur Kreativität unserer Kinder, die wir wollen, aber halt irgendwie auch
nicht. Im tiefen Grunde ihres Herzens sehnen sich Lehrer und Chefs doch nach folgsamen,
stumpfen, kleinen Soldaten, gestern, heute, morgen…
Epilog:
Fragestellung Klassenarbeit Heimat- und Sachunterricht
Klasse 4 in München:
„Wenn ich von Russland nach Alaska reise, ist das nicht weit.
Stimmt die Behauptung? Begründe!“
Antwort:
„Ja, das stimmt, weil die Erde rund ist.“ (2 Punkte)
(Alternativ wäre richtig gewesen: „Ja, das stimmt, ich kann
die Karte umklappen.“)
Weiß Herr Putin eigentlich schon, dass Russlands aus Sibirien besteht und Petropawlowsk-Kamtschatka der Nabel der Welt ist?
Vielleicht sollte er mal bei uns in die Grundschule gehen, das könnte sein
Weltbild für immer verändern. Es ist ja nach überall hin nicht weit, wenn man’s
genau nimmt. Die Erde ist rund...