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Donnerstag, 26. Oktober 2017

Old School - Retro Lernen im Jahr 2017


Retro ist schick, und Old School ist trend. Klingt besser als altmodisch und ist an sich nichts Schlechtes. Ich bin kein Wegwerf-Fan und es freut mich diebisch, dass alte Gegenstände bei der nächsten Generation wieder eine gewisse Wertschätzung erfahren, nachdem wir, die Generation Golf, groß geworden sind mit „schmeiß weg, kauf neu“. 
Shpock und eBay Kleinanzeigen treten in ernste Konkurrenz zum klassischen Flohmarkt. Finde ich gut, nutze ich auch und wenn meine Kinder hingebungsvoll in alten Comics aus den Siebzigern blättern, ist das irgendwie süß und man wird ein bisschen nostalgisch. 
Nostalgie jedoch gehört ins Museum oder in den Wohnzimmerschrank, aber keinesfalls in die Schule! Unser Schulsystem ist marode und veraltet und nach den neuesten PISA-Ergebnissen schlichtweg katastrophal. Ich glaube, das habe ich schon mehrmals geschrieben. Das ist angesichts der verworrenen Lehrpläne und der veralteten Lernstrukturen in Deutschland ein alter Hut. Was mich mit purem Entsetzen erfüllt, ist meine kürzlich gewonnene Erkenntnis, dass nicht nur Lehrer den längst überfälligen Einsatz von digitalen Hilfsmitteln und Lehrmethoden bremsen, sondern die Eltern. Obwohl bei nüchterner Betrachtung und dem Bestreben sämtlicher Unternehmen und Ämter nach Digitalisierung eigentlich jedem klar sein muss: Die Ära von Gedrucktem neigt sich ihrem Ende. Bücher machen sich gut im Regal, aber alltagsrelevant sind heute andere Medien. Wenn ich eine Gebrauchsanleitung suche, finde ich sie bei Google. Statistisch belegt setzen sich 74% der Grundschüler mit digitaler Technologie auseinander und 93% der 11-14jährigen. Und wie arbeiten die Schulen hier mit? 
Fünf Jahre hintereinander besuche ich den Elternsprechtag im Gymnasium meiner Söhne und fünf Jahre hintereinander passiert das Gleiche wie zu meiner Gymnasialzeit vor über dreißig (!) Jahren:
1. Der Lehrer begrüßt. 2. Der Lehrer geht zum Tageslichtprojektor. 3. Der Lehrer schält den Projektor ein. 4. Der Lehrer legt eine Folie auf.
Nach den foliengestützten Vorträgen der Lehrkräfte habe ich mich beim letzten Mal tapfer nach eBooks für unsere Kinder erkundigt, da der Schulranzen eines Fünftklässlers im Schnitt über zehn Kilogramm wiegt. Und was höre ich von einem aufgebrachten Vater: Er will nicht, dass sein Kind mit elektronischen Medien lernt, weil es sich zu schnell ablenken ließe. Ich benötige beruflich einen PC, wie jeder heutzutage. Der zitierte Vater saß im Elternabend mit einem Notebook. Hmm… Finde den Fehler. Danke, setzen, sechs!
Die Lehrerin hingegen, die den Projektor betrieben hat, steht nicht nur der Nutzung von eBook-Versionen der Schulbücher, sondern auch dem Vokabellernen mit Apps am Smartphone aufgeschlossen gegenüber. (So kann man beim Autofahren übrigens prima lernen.) Immerhin, es gibt noch Hoffnung. 
Liebe Eltern, Nostalgie gehört ins Museum, nicht ins Klassenzimmer. Wenn unsere Kinder sich von den elektronischen Medien zu schnell ablenken lassen, dann deshalb, weil sie den richtigen Umgang bisher nicht gelernt haben. Smartphones im Wert von mehreren Hundert Euro sind nicht nur für Youtube und Instagram gemacht. Damit kann man arbeiten. Kinder müssen den Umgang mit elektronischen Geräten lernen, so wie sie stillsitzen und schreiben und mit Besteck essen lernen. Das passiert ganz bestimmt nicht, wenn wir sie einfach allein lassen mit der Wii, dem iPad und den ganzen anderen teuren Gadgets, die wir alle natürlich besitzen und natürlich auch unseren Kindern zur Verfügung stellen – wir wollen ja keine Außenseiter herziehen. 
Also nichts wir ran an die neueste Lernsoftware! Bewegen Sie die Lehrer zum Einsatz von Moodle, spielen Sie die Vokabel-App aufs Smartphone und lassen Sie ihr Kind die Hausaufgabe oder einen Haushaltsplan als Word- oder Excel-Dokument erstellen. Denn irgendwann kommt das echte Leben – dann wird der souveräne Umgang mit elektronischen Hilfsmitteln vorausgesetzt, und nicht das faltenlose Umblättern von Buchseiten.




(Und so sieht das Leben ohne diesen ganzen Elektronik-Schnickschnack aus…)

Donnerstag, 21. September 2017

Die Frau, das selbstbewusste Wesen


Kürzlich habe ich den ZDF-Mehrteiler „Ku’damm 56“ angesehen. Es ist aus heutiger Perspektive fast unglaublich, wie sehr sich Frauen nach dem Krieg der schönen Fassade wegen verbiegen mussten. Das Leben bestand aus unzähligen Lügen und der Flucht aus der Realität mit Frauengold, nur weil der schöne Schein eben genau das war: eine makellose Fassade. Selbstverwirklichung? Was für eine lustige Vorstellung. Frauen haben keine Bedürfnisse zu haben! Homosexualität, die nicht standesgemäße Liebe, der  heimliche langjährige Hausfreund und Liebhaber – nix gibt’s, wie mein vierzehnjähriger Sohn schön die Verneinung formuliert.

Wie gut, dass das alles vorbei ist und hinter uns liegt. Wir schreiben ein neues Jahrtausend, wir sind frei, wir sind selbstbestimmt: Wir dürfen heiraten, wen wir wollen. (Es gibt Gerüchte, wonach dies für einige Gesellschafsschichten von und zu Deutschland nicht gilt, aber das sind natürlich nur Vorurteile!) Wir dürfen lieben, wen wir wollen. (Außer auf dem Land. Und als Fußballspieler, als Angestellter einer Kirche oder wenn man Karriere machen möchte, aus einer konservativen Familie stammt, im Osten Deutschlands lebt oder vom falschen Kontinent stammt.) Wir dürfen sagen, wenn es uns schlecht geht, wir überarbeitet sind und uns alles über den Kopf wächst: in Selbsthilfe-Gruppen, Mütter-Foren, beim Psychologen und in der Burn-out-Klinik. Wir sind absolut frei und unabhängig, was unsere Bildung, die äußere Erscheinung und unsere Lebensführung betrifft. Vorausgesetzt, die Eltern ermöglichen eine gute Ausbildung, die Kleidergröße liegt zwischen 34 und 38 und ab Mitte 30 gibt es den festen Lebenspartner und als einziges „Problem“ die Frage Kind ja oder nein zu klären. Mit Größe 40 aufwärts, vormals Übergröße, heute Plus-Size, sollte man zumindest den Anstand haben, in allen sozialen Netzwerken live von den neuesten Diätmaßnahmen zu berichten. Friseurin, Erzieherin oder Sekretärin sind schöne Berufe, werden aber nicht als solche wahrgenommen, sondern möglichst verschwiegen. An den fantastischen Verdienst- und Karriereaussichten kann es doch wohl nicht liegen… Und außerdem darf wirklich jeder nach seiner Façon glücklich werden. Beth Ditto ist lesbisch, fett und erfolgreich. 

Es ist alles ganz anders und viel besser heutzutage. Wir müssen nicht den schönen Schein wahren. Wir leben ein stinknormales Leben in unserer Traumwohnung, haben unspektakuläre Berufe wie Webdesigner, Mediendesigner oder Consultant und sind manchmal richtig mies duckfacemäßig drauf. Das zeigen wir unserer Umwelt ganz offen und ungeschönt mit aktuellen Fotos, also pics, aus jeder Lebenslage, ohne Filter und ohne Weichzeichner... unterschrieben mit so hübschen Begriffen wie #nomorebedhair#thx@giacomosbeautypalace#neuefrisurneuefrau. Selbstverständlich geben wir Niederlagen und unschöne Erlebnisse zu, auch das grauenhafte Hotel im letzten Urlaub #cocktailampool#besturlaubever#geileparty), wie wir zuhause nach mehrwöchiger Putzabstinenz die Toilette schrubben (#newcouch#nailcouture#waszieheichheutean) und selbstverständlich stehen wir zu ALLEN UNZULÄNGLICHKEITEN UND MAKELN genauso wie zu unserem Alter (#besterbotoxdoc#40istdasneue30#mamatochterkleidertausch#schlankin5minuten). Alles ganz ohne Druck, weil es zum Glück keine Erwartungen mehr an uns Frauen, unser Leben und unser Aussehen gibt.

Ich bin froh, dass wir die Selbstinszenierung erfunden haben. Damit sind wir endlich nicht mehr gezwungen, so zu tun, als ob unser Leben perfekt wäre. Es genügen ein paar hübsche Bilder davon!

Muss jetzt leider ganz schnell weg, zur Schweißdrüsen-OP.

Freitag, 7. April 2017

Ein Suchbild: 1984 und 2017


Klassenzimmer im Gymnasium 1984:
Tische, Stühle, Lehrerpult, eine Tafel. Daneben Zirkel, Lineal und Geodreieck im Großformat. In der Ecke ein Tageslichtprojektor.

Klassenzimmer im Gymnasium 2017:
Tische, Stühle, Lehrerpult, eine Tafel. Daneben Zirkel, Lineal und Geodreieck im Großformat. In der Ecke ein Overheadprojektor.

Unterrichtsmaterial Gymnasium 1984:
Buch, Hefte, Stifte, Hausaufgaben mit selbigen.

Unterrichtsmaterial Gymnasium 2017:
Buch, Hefte, Arbeitshefte (passend zu den Schulbüchern der einzelnen Fächer und käuflich zu erwerben), Stifte, Hausaufgaben mit selbigen.

Unterrichtsthemen Deutsch Gymnasium 1984:
Erörterung, Protokoll, Textzusammenfassung, Textinterpretation, Bericht, Anzeige.

Unterrichtsthemen Deutsch Gymnasium 2017:
Erörterung, Protokoll, Erörterung, Erörterung, Textzusammenfassung.

Finde den Unterschied. (Lösung: s. unten)

Ich bin entsetzt, wenn ich sehe, dass im Gymnasium, der heiligen Kuh des deutschen Schulsystems – in den vergangenen 30 Jahren am Unterricht fast nichts modernisiert wurde. An den Hochschulen landen Abiturienten, die in YouTube-Filmen die Problemlösung bei Spielen erklären und auf Snapchat und Instagram im Sekundentakt ihr Leben posten. Leider sind sie nicht in der Lage, ihr Studium zu organisieren, weil sie keine Lernplattformen kennen. Das Synonym für Recherche heißt Wikipdia. Und dass man mit einem Tablet nicht nur spielen, sondern auch arbeiten kann, wissen sie nicht. Woher auch. Eine Anfrage-Mail von Studieninteressierten an der Universität sieht ungefähr so aus:
Von: SüßeSusi99@...
Betreff: (kein Betreff)
Nachricht: Ich will bei euch studieren. 🙆😙 was mus ichh tun?😱
Susi Müller

Na wenn das mal kein erfolgversprechender angehender Jung-Akademiker ist. Liebe Lehrer, die richtige Formulierung für eine einfach eMail, also die moderne Form eines Geschäftsbriefes, die in jedem Beruf und jedem Lebensbereich benötigt wird, könnte man in den Deutsch-Unterricht implementieren, ohne vorher eine vieljährige Lehrplan-Reform auszubaldowern. Das hat auch nichts mit G8 oder G9 zu tun. Anstatt in einem Schuljahr die Schüler dreimal mit Erörterungen zu langweilen, wäre es doch ganz prima, endlich den Sprung ins 21. Jahrhundert zu wagen und so etwas total Wildes wie die Kommunikation mithilfe moderner Medien zu üben. An den Lehrplan hält sich doch eh keiner.
Referate, von manchen Eltern misstrauisch als pure Faulheit der Lehrer beäugt, sind ein erster Schritt in Richtung „was Schüler im echten Leben brauchen können“. Warum lasse ich nicht auch mal einen Schüler ein Video drehen, in dem er seinen Mitschülern einen mathematischen Term erklärt: Was das überhaupt ist, wie ein Term aussieht, wofür man den braucht. Nein, das ist alles viel zu modern. Nur echte Bücher zählen, denn damit werden die meisten ihr ganzes Leben nie mehr konfrontiert. Diesen Genuss müssen Schüler im Gymnasium so lange und ausgedehnt wie möglich erfahren. Wer will schon wissen, dass direkt nach dem Abholen des Abi-Zeugnisses die Welt sich nur noch über Excel, SAP, Doodle, Moodle und eMails definiert. Wir pflegen verzweifelt einen Kult aus dem letzten Jahrtausend. Wir wollen keine Neuerungen und i bewahre bloß keine Orientierung an den Bedarfen im nachfolgenden Ausbildungs-, Studien- und Berufsleben.
Ach ja, die Lehrmittelfreiheit. Der Freistaat Bayern zahlt großzügig die Schulbücher. Deshalb nehmen wir nichts anderes her. Sonst fallen ja auch kaum Kosten an. Die ersten beiden Schulwochen im September kosten eine Familie mit zwei schulpflichtigen Kindern ca. 200 Euro: Hefte, gedruckte Arbeitshefte ergänzend zu verschiedenen Schulbüchern in Mathe, Deutsch, Englisch, Latein usw., Stifte, Pinsel, Zirkel, Material für Kunst, Werken, Kopiergeld. Weitere Ausgaben folgen den Rest des Schuljahres über. Schulbücher sind in der Regel zehn Jahre lang im Gebrauch. Vergisst eine Schule, rechtzeitig neue Bücher zu bestellen (oder die Mittel sind von der Stadt nicht da), gibt es auch mal – genau – keine Bücher. Zumindest keine aktuellen. Also noch mehr Kopien, noch mehr Arbeitshefte. Geile Sache, diese Lehrmittelfreiheit. Für Oldenbourg, Cornelsen und Klett.  

Aber bitte, wir können doch nicht verlangen, dass Kinder, die eine Playstation, WII oder einen Gamer-PC für mehrere tausend Euro zuhause stehen haben, ernsthaft mit einem Rechner und klassischen Anwender-Programmen, die wir Erwachsene jeden Tag nutzen, auch mal Hausaufgaben erledigen! Was für eine absurde Vorstellung.

Gut, dass old school und old fashionend gerade voll im Trend liegen. Hoffentlich wissen das auch die Arbeitgeber von morgen zu schätzen, wenn der Jahresbericht für die Aktionäre keine vollständigen Sätze, aber zahlreiche handschriftliche Notizen und Emojis enthält. J J J




(Lösung 1: Der Tageslichtprojektor heißt jetzt Overheadprojektor.
Lösung 2: Transferfrage: Die Schultasche 2017 ist schwerer, dafür werden weniger Themen durchgenommen.)