Kürzlich habe ich den ZDF-Mehrteiler „Ku’damm 56“ angesehen.
Es ist aus heutiger Perspektive fast unglaublich, wie sehr sich Frauen nach dem
Krieg der schönen Fassade wegen verbiegen mussten. Das Leben bestand aus unzähligen
Lügen und der Flucht aus der Realität mit Frauengold, nur weil der schöne
Schein eben genau das war: eine makellose Fassade. Selbstverwirklichung? Was
für eine lustige Vorstellung. Frauen haben keine Bedürfnisse zu haben! Homosexualität,
die nicht standesgemäße Liebe, der heimliche langjährige Hausfreund und Liebhaber – nix gibt’s,
wie mein vierzehnjähriger Sohn schön die Verneinung formuliert.
Wie gut, dass das alles vorbei ist und hinter uns liegt. Wir
schreiben ein neues Jahrtausend, wir sind frei, wir sind selbstbestimmt: Wir dürfen
heiraten, wen wir wollen. (Es gibt Gerüchte, wonach dies für einige
Gesellschafsschichten von und zu Deutschland nicht gilt, aber das sind
natürlich nur Vorurteile!) Wir dürfen lieben, wen wir wollen. (Außer auf dem
Land. Und als Fußballspieler, als Angestellter einer Kirche oder wenn man
Karriere machen möchte, aus einer konservativen Familie stammt, im Osten
Deutschlands lebt oder vom falschen Kontinent stammt.) Wir dürfen sagen, wenn
es uns schlecht geht, wir überarbeitet sind und uns alles über den Kopf wächst: in Selbsthilfe-Gruppen, Mütter-Foren, beim Psychologen und in der Burn-out-Klinik.
Wir sind absolut frei und unabhängig, was unsere Bildung, die äußere
Erscheinung und unsere Lebensführung betrifft. Vorausgesetzt, die Eltern ermöglichen eine gute Ausbildung, die Kleidergröße liegt zwischen 34 und 38 und ab Mitte 30 gibt es den festen Lebenspartner und als einziges „Problem“ die Frage Kind ja oder
nein zu klären. Mit Größe 40 aufwärts, vormals Übergröße, heute Plus-Size,
sollte man zumindest den Anstand haben, in allen sozialen Netzwerken live von
den neuesten Diätmaßnahmen zu berichten. Friseurin, Erzieherin oder Sekretärin
sind schöne Berufe, werden aber nicht als solche wahrgenommen, sondern möglichst verschwiegen.
An den fantastischen Verdienst- und Karriereaussichten kann es doch wohl nicht
liegen… Und außerdem darf wirklich jeder nach seiner Façon
glücklich werden. Beth Ditto ist lesbisch, fett und erfolgreich.
Es ist alles ganz anders und viel besser heutzutage. Wir müssen nicht den schönen Schein
wahren. Wir leben ein stinknormales Leben in unserer Traumwohnung, haben unspektakuläre Berufe wie Webdesigner,
Mediendesigner oder Consultant und sind manchmal richtig mies duckfacemäßig drauf. Das
zeigen wir unserer Umwelt ganz offen und ungeschönt mit aktuellen Fotos, also pics, aus
jeder Lebenslage, ohne Filter und ohne Weichzeichner... unterschrieben mit so hübschen Begriffen wie #nomorebedhair#thx@giacomosbeautypalace#neuefrisurneuefrau.
Selbstverständlich geben wir Niederlagen und unschöne Erlebnisse zu, auch das grauenhafte Hotel im letzten Urlaub #cocktailampool#besturlaubever#geileparty), wie wir zuhause
nach mehrwöchiger Putzabstinenz die Toilette schrubben (#newcouch#nailcouture#waszieheichheutean)
und selbstverständlich stehen wir zu ALLEN UNZULÄNGLICHKEITEN UND MAKELN genauso wie zu unserem Alter (#besterbotoxdoc#40istdasneue30#mamatochterkleidertausch#schlankin5minuten).
Alles ganz ohne Druck, weil es zum Glück keine Erwartungen mehr an uns Frauen, unser Leben und unser
Aussehen gibt.
Ich bin froh, dass wir die Selbstinszenierung erfunden
haben. Damit sind wir endlich nicht mehr gezwungen, so zu tun, als ob unser
Leben perfekt wäre. Es genügen ein paar hübsche Bilder davon!
Muss jetzt leider ganz schnell weg, zur Schweißdrüsen-OP.