Ende Februar, München Hauptbahnhof, ein normaler Dienstagmorgen: Es ist viel los. Sehr viel. Ungewöhnlich viel. Zu viel! Es geht zu, als ob an jedem Gleis Gutscheine fürs Finale von Germanys Next Topmodel verschenkt würden. Habe ich etwas verpasst? Wurde Ostern kurzfristig um ein paar Wochen vorverlegt? Dicht tummeln sich Menschen unterschiedlichster Herkunft, tausende Trollis, Koffer und Reisetaschen samt Hunden, Katzen und Kindern in den jeweils dafür vorgesehenen Behältnissen bedecken den Boden fast lückenlos. Es ist eindeutig mehr als sonst und sowohl für die Jahreszeit als auch für den Wochentag unerklärlich. Ich wundere mich ein wenig, kämpfe mich handtaschenschleudernd durch die Masse und bin wenige Minuten später als sonst bei der Arbeit, kein Wunder angesichts dieser Verkehrsdichte.
Gleicher Tag, gleicher Ort, früher Nachmittag. Über die vergangenen Stunden hat sich die Lage nicht beruhigt. Ganz im Gegenteil: Es sind noch mehr Leute geworden. Langsam finde ich das verdächtig. Woher kommen all diese Menschen, was machen sie hier, und vor allem: wo wollen sie hin? Es sind weder Ferien noch Feiertage, das Oktoberfest ist in sechs Monaten, und Berühmtheiten sind auch keine in der Stadt. Weder das Jolie-Pitt-Pack noch George Clooney. Die meisten Stars, Königshäuser, ja sogar der deutsche Kaiser Franz weilen derzeit lieber in den gut ausgeleuchteten Skiressorts dieser Welt. Im streng budgetierten einundzwanzigsten Jahrhundert ist kein Geld da für Jet-Set-Journalisten. So müssen sich die VIPs notgedrungen bündeln, wenn sie scharf auf einen Platz in den Bunten Blättern sind.
Also, was zum Teufel ist hier los?
Leichte Panik steigt in mir hoch. Ich gehöre nämlich zur Gattung der Diskreten, der Nicht-Neugierigen, und - folglich - auch der „Uninformierten“. Während andere das Gras ihrer Umgebung wachsen hören und den neusten Klatsch praktisch simultan erfahren, wie er passiert, bekomme ich die Beziehungskrise der hysterischen Arbeitskollegin erst dann mit, wenn diese heulend auf die Toilette flüchtet, während die Buchhaltung nachfragt, wohin die Lohnsteuerkarte zur Änderung geschickt werden soll. Wer mit wem ins Bett geht, wer mit wem nicht mehr, wer schwanger ist und wer frisch verliebt, das erfahre ich entweder, wenn es monatelang vorbei ist - oder gar nicht. Und ich lebe sehr gut damit. Mein eigenes Leben ist kompliziert genug; ich bin froh, wenn alles in geregelten Bahnen läuft. Von meiner Familie und meinen echten Freunden abgesehen, brauche ich keine Informationen über den seelischen Zustand meiner Umwelt. Vielleicht ist es egozentrisch. Mein Noch-Chef nennt es mangelndes Interesse an meinen Mitmenschen. (Ich habe wohl die Mitarbeiterseelsorge in meiner Arbeitsplatzbeschreibung übersehen.) Jedenfalls hatte ich bisher nicht das Gefühl, etwas Wichtiges zu verpassen. Und die überdrehten Kollegen bin ich bald los.
Nur bei unerwarteten Menschansammlungen an öffentlichen Plätzen wurde und werde ich nervös. Allerdings nicht aus Angst vor Anschlägen oder weil ich klaustrophobisch veranlagt bin. Der Grund ist banal: ich hasse den Mitteilungsdrang der Menschen, die in vollbesetzten Zügen und Bussen ihre Umwelt lautstark am Privatleben teilhaben lassen.
Ich will nicht wissen, dass Tschanine nicht weiß, von wem sie schwanger ist. Mich interessiert auch nicht die beste App für endsgeile Lama-Comedy oder die detaillierte Schilderung eines ganz normalen Teenie-Wochenendes. Warum gibt es den Begriff Privatleben überhaupt noch? Er ist prädestiniert als Unwort des Jahres. Einzig würdiger Konkurrent auf den ersten Platz ist der Ehrensold. Im Zeitalter von Twitter, Facebook und einem Ex-Bundespräsidenten Christian Wulff sind Begriffe wie „Ehre“ und „privat“ so mausetot und ausgestorben wie die Dinosaurier.Ich stelle ab sofort meine persönliche Bestenliste auf. Mal sehen, was da bis Jahresende alles zusammenkommt. Anregungen? Gerne!
Warum es an manchen Tagen zugeht, als hörte am nächsten Tag die Welt auf, sich zu drehen, habe ich übrigens noch immer nicht herausgefunden.
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