Alle sind erschüttert und enttäuscht, haben sie sich doch so viel von ihrer Aussage erwartet. Ja, was haben sie denn gedacht, was sie sagt, die Frau Becker? Dass sie auspackt und erzählt, was damals in der RAF vonstatten ging? Wer welches Attentat wann geplant und ausgeführt hat? Hat das wirklich, allen Ernstes jemand geglaubt?
Wir fassen zusammen: Die Mitglieder der Roten Armee Fraktion, kurz RAF, bestanden aus Juristen, Journalisten, Soziologen und anderen Intellektuellen. Das waren keine Checker, die ein bisschen cool sein wollten. Es waren keine ideologisch verwirrten Glatzköpfe, keine religiös fanatischen Turbanträger und keine heiligen Krieger. Es waren Menschen, die ein Problem mit dem Ablauf und der Struktur innerhalb des deutschen Staates hatten. Es waren nicht nur zwei oder drei, es waren viele. Einige haben sich selbst das Leben genommen, andere wurden getötet, ein paar wenige dingfest gemacht. Ausgepackt hat bisher keiner. Warum auch? Warum sollen sie heute erklären, warum sie damals für ihre Überzeugungen gekämpft und getötet haben. Die RAF-Morde sind nicht spontan passiert, sie hatten keinen fremdenfeindlichen Hintergrund, sie waren vielmehr gesellschaftsfeindlich, wenn man so will. Die Opfer wurden nach ihrer Funktion im Staat ausgesucht, nicht nach ihrer Hautfarbe oder ihrer ethnischen Herkunft. Es waren keine spontanen Aktionen, keine Racheakte, keine unüberlegten Handlungen, sondern exakte Gleichungen: mathematische Berechnungen mit genau einer Lösung.
Die RAF ist gescheitert. Die einzelnen Mitglieder und ihre Überzeugungen müssen deshalb noch lange nicht auf den politischen Friedhof. Wenn ich als Erwachsener, als gereifte Persönlichkeit, so weit gehe, dass ich Menschen nach ausgeklügelten Plänen aus einer rein politischen Überzeugung heraus töte, ohne jede Leidenschaft, warum sollte ich danach umkehren und mein Tun bereuen? Das ist unlogisch, ganz egal, ob zehn Wochen, zehn Monate oder zehn Jahre später. Zeit ist relativ. Und wenn ich mir unsere politische Landschaft im Jahr 2012 so ansehe, habe ich nicht das Gefühl, dass alles richtig und rechtens ist, was hier abläuft. Die RAF existierte von 1970 bis in die Neunziger Jahre hinein, offiziell. Warum soll sich ein Mitglied dieser Gruppe, die sich erst vor wenigen Jahren auflöste, Aussagen zu Verbrechen machen, die weder verjährt noch von der Brisanz her vergessen sind? Warum soll jemand eine andere Gesinnung annehmen, wenn er sieht, wie sich Politiker heute bereichern, welche krummen Geschäfte auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen werden, wie viel Schwerverbrecher in Brioni-Anzügen und mit Zigarre im Mund uns regieren?
Die Ziele der RAF war nicht die Eroberung des Mars oder die Rückkehr ins Paradies. Die Opfer waren nicht Schüler eines Sommercamps oder missliebige Arbeitsgenossen. Die RAF ist entstanden, weil Menschen mit der politischen Entwicklung in Deutschland nicht einverstanden waren und nur noch in der Gewalt die Möglichkeit sahen, diese Umstände zu verändern.
Wer diese Schwelle überschreitet, der tut das nicht leichtfertig. Und schon gar nicht, ohne sich über die Folgen im Klaren zu sein. Verena Becker wäre für ihre Überzeugungen gestorben, sie hat wahrscheinlich dafür getötet. Verraten wird sie sie niemals. Keiner.
„Ich habe das Gestern gesehen, ich kenne das Morgen.“
(Inschrift am Grab von Tutanchamun)
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