Der neue Hang zur Sachlichkeit verfolgt mich. Der derzeit schlimmste aller Trends, leider ebenso allgegenwärtig wie nervig: die Lounge, ausgesprochen "Loooontsch", eine Wortschöpfung, die stark nach Loddar klingt, oder Claudia E., oder wie die Repräsentanten der meinungsbildenden Schicht derzeit heißen. Dahinter verstecken sich unbequeme Sessel und Hocker an viel zu kleinen, viel zu niedrigen Tischen mitten im Raum. Dazu gibt es überteuerten Kaffee, und alle sind wahnsinnig schick und cool.
Anfang des Jahres ist mein Friseur umgezogen. Nach Oberstdorf. Als ich zum ersten Mal von dem geplanten Wechsel erfuhr, habe ich gleich in bester Stalker-Manier nach der Privatadresse meiner Lieblingsfriseurin gegoogelt – für den Fall der Fälle, nämlich den, dass sie ebenfalls ins Nirvana verschwindet. Später folgte die große Erleichterung: Der Besitzer wechselt, der Name auch, die Belegschaft bleibt. Jedoch, nach vollzogenem Chefwechsel, die Erkenntnis: Eine begnadete Scherenakrobatin allein reicht nicht. Mit dem neuen Inhaber zog ein neuer Stil, pardon, Style (dieses Mal in richtigem Englisch ausgesprochen) ein: Juhu, da war sie wieder, die Loooontsch. (Bis auf die unbequemen Möbel jedenfalls.) Alles ist nun schlicht und cool, sogar der Name, und ein güldener Buddha bewacht die Kunden, solange sie unter der Trockenhaube sitzen. Der junge Mann, in dessen Leben es außer seiner Mammaaa, die den Laden finanziert, nie eine Frau geben wird, hat ganze Sache gemacht. Keine käuflich zu erwerbenden Bürsten und Kämme mehr, dafür nur noch das teuerste Shampoo, das auf dem Markt ist. Es gibt sogar eine Getränkekarte - mit Aperol Spritz versteht sich. Zum Ausgleich wurden die Preise um satte fünf bis zehn Prozent angehoben. Lifestyle hat seinen Preis.
Direkt neben dem Friseur ist eine nette Bar. Und Aperol Spritz schmeckt mir wesentlich besser ohne pieksige Alufolie auf dem Kopf und chemische Farbstoffe in der Nase. Einen neuen Friseur finde ich hoffentlich auch bald. Und nach meinem heutigen Live-Erlebnis einer Oberleitungsexplosion im S-Bahnschacht erwäge ich, meinen Blog in „Neues aus Petropawlosk-Kamtschatski“ umzubenennen. Aber das ist eine andere Geschichte.
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