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Dienstag, 26. Juni 2012

Deutschland, einig Maulerland

Fußball Europameisterschaft 2004, Portugal: Der Karikaturist nimmt den deutschen Trainer aufs Korn. Rudi Völler skizziert die erfolgversprechendste Aufstellung der deutschen Mannschaft auf einem Blatt. Untertitel: "So könnte es klappen". Auf dem Blatt steht elfmal der Name „Kahn“, einmal im Tor und zehnmal über eine Spielfeldhälfte verteilt. Seinerzeit schied Deutschland nach der Vorrunde aus.
In Deutschland wurde gespottet und gehöhnt. Alle Moderatoren wussten es besser und am allerbesten natürlich das Blatt mit den vier Großbuchstaben. Zuviel unerfahrene Neulinge, alles völlig falsch geplant, altmodische Taktik und so weiter. Nach dem Kader der Altgedienten von 2000 das genaue Gegenteil: Jugendfußball. Rudi Völler trat nach dem frühen Ausscheiden dann auch brav zurück. 2002 war es schließlich nicht viel besser gewesen, trotz Finale: Die Mannschaft zu alt, die Spielweise nicht pfiffig genug, der eine zu groß, der andere zu langsam, der dritte zu blond. Richtig machen kann es uns keiner. Jürgen Klinsmann sorgt zwei Jahre später für die große Überraschung mit dem dritten Platz bei der WM 2006. „Ein Sommermärchen“, jubeln die Gazetten. Selbstverständlich erst nach dem Erreichen des Halbfinales. Davor wurde die übliche Häme über jenen Trainer ausgeschüttet, der als Notnagel für einen der meistkritisierten Jobs der Welt herhielt. Da muss eine Mannschaft mindestens den dritten Platz machen, bis die Anerkennung kommt. Dann jubeln, nach viel Kritik, plötzlich alle über die jungen Wilden Deutschlands und den super Job, den „Klinsi“ macht. Allein dieser Kosename entwertet doch jedes Lob! Seine Spieler waren übrigens zu einem Großteil die gleichen, die Völler zwei Jahre vorher eingesetzt hatte, zum Beispiel Lukas Podolski, 2006 gerade mal 21 Jahre jung, Bastian Schweinsteiger (20), Philipp Lahm (21) und Miroslav Klose, damals 26 Lenze zählend. Jürgen Klinsmann hatte trotz Märchen nach der monatelangen verbalen Dresche die Nase voll und suchte sich hernach einen dankbareren Job. Trainer beim FC Bayern München entspricht diesem Kriterium zwar nicht wirklich; aber das weiß er inzwischen auch.

2012: Fußball Europameisterschaft, Polen: Joachim Löw sinniert über die beste Aufstellung seiner Mannschaft. Die Namen rotieren, dass den Gegnern schwindlig wird. Zur Verfügung stehen lauter Ausnahme-Talente, heiß begehrt von namhaften Vereinen, souverän und hochmotiviert. Die Chancen des deutschen Kaders sind bestens, und jede Position ist doppelt mit einem erstklassigen Spieler besetzt. Eine Situation, von der jeder Trainer träumt! Ganz abgesehen von zahllosen europäischen Vereinsoberen, für die nach dem Finale die Shopping-Saison beginnt. Den Erfahrungen der vergangenen Jahre nach dürfte der Marktwert einiger deutschen Spieler in den kommenden Wochen deutlich steigen.
Und was sagen wir dazu? Wie äußert sich die deutsche Presse? „Müller bangt um seinen Platz in der Stamm-Elf“, „Gomez gegen Klose - wer setzt sich durch“ oder „Schweinsteiger: Note 5“ sind noch die freundlichsten Schlagzeilen. Es wird geunkt und orakelt und mies gemacht. Unsere Journalisten schreiben von „Zittersiegen“ und „knappen Ergebnissen“ - bei vier gewonnen Spielen im Turnier und fünfzehn Siegen in den Pflichtspielen davor. Das eine oder andere lobende Wort ist auch dabei, doch niemals frei von Skepsis und zahllosen „Ojes“ wegen unserer Angst-Gegner.
Die Journalisten können von Glück sagen, dass Joachim Löw nicht mein Temperament hat. Ich würde bei jeder Pressekonferenz mit James-Bond-Regenschirmen auf sie losgehen.

Und: Leute, entspannt euch! Es ist ein SPIEL.
Die Iren wurden nach drei Niederlagen in der Vorrunde von ihren Fans eine Viertel Stunde lang besungen. Genau das sollten wir auch tun, ganz egal ob das deutsche Team in den nächsten beiden Spielen gewinnt oder verliert. Wer Einsatz zeigt, hat Anerkennung verdient. Ich bin stolz auf eine so hervorragende Mannschaft und einen Trainer, der jeden seiner Spieler optimal einsetzen kann. Welcher Chef kann das von sich behaupten? Der Rest ist reine Form- und Glückssache. Das Recht auf einen Schnitzer hat jeder von uns. Der Unterschied ist, dass es keine acht Zentimeter großen Buchstaben in der Tagespresse auslöst, wenn ich vergesse, den Geschäftsführer zum Meeting einzuladen.

Falls Miro Klose und die anderen Jungs (sie sind übrigens ein Team, ganz egal, wer auf dem Platz steht) verlieren, und jemand trotzdem ganz laut singt, so wie die irischen Fans für ihre Mannschaft gesungen haben: das bin ich.

Samstag, 16. Juni 2012

Die Rache des Herrn Brabang

Kennen Sie Gerhard Polt? In seinem Programm „Standort Deutschland“ von 1997 gibt es eine Episode über Herrn Brabang, den asiatischen Gläserspüler, der den deutschen Gastronomen billiger kommt als ein Geschirrwäsche-Vollautomat.

Vor einigen Wochen stand ich morgens in unserer Büroküche und spülte Gläser und Tassen. Wir haben in letzter Zeit viele Besprechungen, und unsere Putzfrau, die sich auch um die Küche kümmert, bekommt Nachwuchs. Deren Vertretung erscheint nur ein- bis zweimal die Woche. Meine Kollegin wiederum hat schlaflose Nächte aus Angst, die Reinigungskräfte seien unterbeschäftigt, wenn wir zwischendurch selbst die Spülmaschine einschalten. Die Tassen würden noch bis übermorgen ausreichen ... Dumm nur, wenn sich ein paar unangekündigte Meetings dazwischen schieben. Infolgedessen stehen wir regelmäßig ohne sauberes Geschirr da.
So kam es, dass ich um halb neun in der Früh unser Bürogeschirr spülte, während im Besprechungsraum VIP-Kunden mit unserem chinesisch-stämmigen Controller und unserem Projektleiter und künftigen Niederlassungsleiter kantonesischer Abstammung über Zahlenkolonnen und potentielle Marktchancen in Asien fachsimpelten.

Ein Freund meinte, Stuttgart 21 dürfe schon aus politisch-taktischem Kalkül keinesfalls gestoppt werden, sonst müssten seine Kinder später in China Brücken bauen. Längst gefällte Beschlüsse, zukunftsweisendes Bauvorhaben etc. pp.

Vielleicht ist es aber genau umgekehrt: Weil bei uns alles so umständlich ist, ewig dauert und oftmals weder sinnvoll noch durchdacht, geschweige denn sorgfältig geplant ist, sondern rein persönliche Interessen verfolgt werden, stehen wir heute hart am Abgrund in die wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit. Wir halten uns damit auf, uns wortreich beim Metzger zu beschweren, dass ausgerechnet „unsere“ Fleischsorte aus ist, anstatt umzudisponieren und etwas anderes zu nehmen. Wir rennen so lange herum, bis wir das günstigste Angebot eines Produkts gefunden haben, und nehmen dafür in Kauf, dass Fachgeschäfte mit Qualitätsanspruch eingehen und nur mehr billige Massenware übrig bleibt.

Herr Brabang muss sich jedenfalls nicht mehr einem Schilfrohr gleich ducken. Er hat wahrscheinlich längst das Wirtshaus übernommen und bietet darin taiwanesische Spezialitäten zu horrenden Preisen an. Der frühere Eigentümer dagegen verbringt seine Freizeit, also vierundzwanzig Stunden am Tag, am Ostbahnhof oder am Klagenfurter Platz.

Einen Vorteil haben wir noch: Wir wurden zur Kreativität und zum Mitdenken erzogen. Deshalb schalte ich die Spülmaschine bei der Arbeit einfach ein, wenn diese voll und der Schrank leer ist. Ganz egal, ob unsere Serviceleute alle vom Blitz erschlagen wurden oder zehnmal in der Woche antreten!

Und Stuttgart 21? Tröpfelt vor sich hin. Ich bin noch immer fest davon überzeugt: Manchmal wäre ein Rückschritt der größere Fortschritt.

Tipp: http://www.youtube.com/watch?v=d7VUhZbOVHc

Sonntag, 10. Juni 2012

Frage: Was ist flüssiger als Wasser?


Antwort: Lehrer, denn sie sind überflüssig. Das war in den Achtziger Jahren ein beliebter Schülerwitz. Die Schulzeit ist lange vorbei und es gibt etwas anderes, das flüssiger als Wasser ist: Geld. Auf jeden Fall verdunstet es deutlich schneller.

Das neueste Beispiel, wie schnell von sehr viel Geld praktisch nichts mehr übrig ist, heißt Thomas Middelhoff. Wir erinnern uns: Herr Middelhoff war langjähriger Chef, in Neu-Wirtschaftsdeutsch genannt Vorstandsvorsitzender, von ARCANDOR, jenem Unternehmen, dem er seinen Reichtum verdankte und das er simultan dazu so gewaltig an die Wand fuhr, dass es heute noch kracht: Hertie, Karstadt, Quelle und ein paar andere Unternehmen gehörten zu der Gruppe mit etwa achtzig Tausend Beschäftigten, die vor drei Jahren wie ein Kartenhaus zusammenfiel, hochverschuldet und nicht mehr existenzfähig. Dafür hatten sich diverse Vorstände in den Jahren zuvor eine goldene Nase verdient. Gut für sie, schlecht für die Angestellten, die zum größten Teil ihren Job verloren oder deutliche finanzielle Einbußen erlitten. Ich meine Verkäufer, kaufmännische Angestellte, Servicekräfte und alle jene, deren Jahresgehalt im unteren sechsstelligen Bereich liegt und für Familie, Wohnung, Auto und vieles mehr reichen muss. Frau Schickedanz ließ der Welt via BILD mitteilen, wie arm sie durch die Insolvenz wurde („wir leben von 600 € im Monat“) und Herr Middelhoff wollte allen Ernstes klagen, weil er doch komplett unschuldig war an der Misere. Zu Schadenersatz wurde er trotzdem verurteilt.

Und jetzt das: „Middelhoff räumt finanzielle Schieflage ein“! - Schlagzeile bei Spiegel Online, 10. Juni 2012.

An die Öffentlichkeit gedrungen ist die Peinlichkeit wegen einer Luxus-Yacht, deren Miete er nicht mehr bezahlt. Genauer gesagt schuldet er seit 2009 die Chartergebühren für das über sieben Millionen Euro teure Boot, Zinsen nicht mitberechnet. Seine Anwälte sahen sich nun zum Handeln gezwungen, also zu Erklärungen: Bekannte haben ihn, den Arglosen, falsch beraten und ihm zu Investitionen geraten, die ihm ein sorgenfreies Leben garantieren sollten, ihn statt dessen jedoch an den Rand des Ruins geführt hätten. Eine persönliche Tragödie sei dies für ihn und seine Frau. Wenn ich das richtig interpretiere, könnte man sagen: Er ist praktisch bankrott, weil er den Hals nicht vollbekommen hat.

Dafür verdient er reichlich Mitgefühl: all die Beschäftigten von ARCANDOR, die jahrelang um ihren Job gezittert und ihn teils verloren haben, die Steuerzahler, mit deren Geld die letzten Quelle-Kataloge gedruckt worden sind, unmittelbar gefolgt von der Insolvenz. Und nicht zuletzt Frau Schickedanz, die im Nerzmantel aussortiertes Obst und Schnäppchen ergattern muss, weil ihr kaum genug Geld zum Leben bleibt.

Morgen wird vielleicht in unserer neu erstarkten Einigkeit die Zeitung mit den vier großen Lettern skandieren: WIR sind pleite!“

Einen Rettungsvorschlag für Frau Merkel hätte ich noch: ein Fond, gegründet über Facebook, mit dem zu Spenden für die Yacht ausgerufen wird. Damit ihm, der holden Gattin und den Geliebten der beiden wenigstens ein bisschen Spaß am Leben bleibt.

Sonntag, 3. Juni 2012

Schatten der Vergangenheit

Irgendwo habe ich mal gelesen, bei Facebook sucht man die Leute, die man früher nicht ins Bett bekommen hat.
Daran ist sicher etwas Wahres. Allerdings war ich bislang nicht sonderlich erfolgreich bei der Suche. Viele Flammen hatte ich nicht, und die wenigen, so scheint es, sind an virtuellen Freundschaften nicht interessiert. Vielleicht haben sie sich auch so lustige Namen wie HansweißderKuckuck oder FreddyonElmStreet gegeben. Außerdem gibt es noch mehr unentdeckte Schätze aus Kindheit und Jugend zu heben. Was wurde aus dem alles überstrahlenden Star der neunten und zehnten Klasse, aus meiner ehemals besten Freundin aus dem Dorf meiner Oma (mit der ich eine Woche lang gespielt habe und dann nie wieder) oder aus der japanischen Austauschstudentin, die unsere Familienstreitigkeiten während ihres Aufenthalts mit stoischem Blick ertragen hat.
Es gäbe so viel Interessantes zu entdecken: Namen von früher, die man einmal gehört hat, flüchtige Begegnungen, Schulkameraden, die nach der fünften Klasse weggezogen sind, und Freunde, die man irgendwann zwischen Studienbeginn und erstem Kind kennengelernt und wieder aus den Augen verloren hat. Die Geschwister meiner Schulkameraden (nur die älteren versteht sich!). Alte Freunde meiner Brüder, deren Namen mir seit dem Kindergarten im Gedächtnis sind, jedoch weder Gesicht noch markante Eigenschaften. Der boxende Diakon, bei dem mir als Zehnjähriger die ersten Zweifel am Katholizismus und seinen Regeln kamen. 
Eigentlich müsste man diese Menschen doch finden, denke ich immer. Ist heutzutage nicht jeder Zweite ein C- oder D-Promi? Haben nicht neun von zehn Personen ihre eigene Homepage, mit Vita, Erfolgsstory und Referenzen? Immer mal wieder fällt mir ein Name ein, ein Gesicht von früher, und ich frage mich: Was aus dem wohl geworden ist?

Kurzum, sie sind nicht auffindbar. Was in den meisten Fällen vielleicht auch besser so ist. Tatsächlich finde ich nämlich die wenigsten Leute im Netz. Es sind Schatten der Vergangenheit, dazu bestimmt, ewige Mysterien zu bleiben.

Schade, denke ich im ersten Moment. Gefolgt von einer gewissen Beruhigung, dass  wir trotz Internet und weltweiten Suchmaschinen nicht problemlos alles über jeden in Erfahrung bringen können. Immerhin wäre dies dann auch in die umgekehrte Richtung möglich: Everybody‘s brother ist watching you! Wer will das schon? All die Freaks, die sich mit runtergelassener Hose in der Öffentlichkeit präsentieren, ich weiß. Jedoch erhärtet sich mein Verdacht, dass es daneben sehr viele gibt, die nicht mitmachen beim großen Exhibitionismus-Ringelreihen. Vielleicht sind sie sogar in der Mehrheit. Menschen, die diese Form des Sichpräsentierens nicht praktizieren. Die nicht ihr ganzes Leben einschließlich der Familie, ihrer Freunde und des Arbeitgebers lauthals in die Welt zwitschern oder brüllen. Nicht-Wissen kann auch eine Gnade sein: Der einst begehrteste Junge meines Heimatdorfes hat heute dreißig Kilogramm zu viel um die Leibesmitte, einen fehlenden Eckzahn und eine Familie, die ihn nur noch in Form des zu zahlenden Unterhalts interessiert.

Und wen die Neugier zu sehr treibt, der sollte sich bei jemand anderem live nach dem Verbleib der Person erkundigen. Ganz klassisch, wie in den alten Krimis: Mein Grundschulheld ist Arzt geworden; ein Idol aus Jugendtagen tödlich verunglückt. Der Schulkamerad meines ältesten Bruders, der vom Bonanza-Rad bis zu den Skiern mit Paraplug alles als erster besaß, ist vor einigen Jahren an einer Überdosis Drogen gestorben. Und der Diakon entschied sich gegen das Sakrament der Priesterweihe - und für die Ehe. Immerhin.