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Montag, 14. März 2011

Risse in Raum und Zeit

Es ist ein schöner sonniger Morgen Mitte März. Ich fahre mit leise schnurrender Luxuskarosse durch eine süddeutsche Stadt, zusammen mit vielen anderen modernen, teuren Autos. Es duftet nach Frühling, die Vögel zwitschern. Die Menschen um mich herum sind wohlhabend, gut gekleidet, lesen Zeitung und sehen wichtig aus. Wenige Minuten später stehe ich am Bahnsteig, und wuuums, ich bin Iwana Iwanowa und wohne im hintersten Zipfel Sibiriens. Es ist zugig am Bahnsteig, ein kalter Windzug fegt die Kragen hoch und die Mundwinkel nach unten. Der erwartete Zug kommt mal wieder nicht. Pünktlich kommt er so gut wie nie. Im besten Fall nur ein paar Minuten zu spät, oft fällt er auch ganz aus. Mit viel Glück gibt es eine Durchsage oder eine Anzeige (technischer Defekt, Störung, zu viel Schnee, Hitze oder Regen), meist jedoch steht man einfach in der Kälte und harrt aus. Eine Wartehalle gibt es schon lange nicht mehr. Dafür jede Menge Alkoholleichen und Drogensüchtige, die auf dem Bahnhofsgelände umherschleichen, gebrauchte Fahrkarten verkaufen und mit kleinen Augen in die Welt blinzeln.
Irgendwann kommt sie dann doch, die Bahn. Alle steigen ein. Wir bewegen uns blitzartig zurück in die deutsche Realität: Schubsen, stoßen und drängeln haben wir perfektioniert. Wenig später, am Arbeitsplatz, zack, der nächste Riss: Jetzt befinden wir uns mitten im deutschen demokratischen Sozialismus. Jeder ist frei und darf seine Meinung sagen und alle sind gleich. Solange man mit der Führungsriege konform geht. Anderfalls erfährt man in einem Vier-Augen-Gespräch, dass man das ausgeklügelte System nicht verstehe, die Verantwortlichen stets sinnvoll agieren und jeder Kritik erhaben sind. Bestenfalls...
In der Mittagspause folgt mit der Schlacht in der Kantine um das erste, beste und letzte Stück Fleisch die Rückverwandlung in einen Höhlenmenschen.
Später: Feierabend, nächster Zeitsprung, zurück nach Novosibirsk: Die Probleme vom Vormittag, welcher Art auch immer, verhindern weiterhin das planmäßige Fahren der Züge. An Tagen ohne technische Störungen werden wir Fahrgäste des öffentlichen Nahverkehrs - Achtung, gut festhalten - ins streikfreudige Frankreich katapultiert.
Auch beim Einkaufen gibt es sie, die Ausflüge in Welten fernab der Zivilisation, wo nach einem halben Jahr Winter der erste Lastwagen mit heißersehnten Lebensmitteln ins Dorf kommt. Nämlich, wenn im Aldi ein Sortiment  Kinderkleider erhältlich ist.
Vielleicht gerate ich irgendwann in einen anderen Riss. Und lande als Heidi beim Almöhi. Als Badeschwamm in einem Luxusspa oder als heiliger Hund im alten Ägypten. Oder als Verschluss auf einer Flasche Macallen.

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